Dank einer Rückbesinnung auf die Kernideen, auf denen die Reihe einst aufgebaut wurde, fühlt sich Assassin’s Creed Shadows frischer und befriedigender an als viele der letzten Teile. Mit Naoe, der geschickten Shinobi, gleitet man förmlich vom Boden auf die Dächer der Burgen – das Parkoursystem ist das beste seit Unity. Ein Greifhaken sorgt zusätzlich für Tempo und erlaubt schnelle Fluchten oder perfekte Attentate von der Seilbrücke hoch über dem Feind. Vorausgesetzt, man spielt Naoe. Übernimmt man hingegen die Kontrolle über Yasuke, den zweiten Protagonisten des Spiels, ändert sich alles.
Yasuke ist langsam. Ungeschickt. Laut. Und klettert, als hätte er nie zuvor einen Baum gesehen. Er ist das komplette Gegenteil eines typischen Assassin’s-Creed-Charakters – eine der vielleicht überraschendsten, aber auch spannendsten Designentscheidungen von Ubisoft. Anfangs war ich frustriert von dieser Kluft zwischen Yasukes Fähigkeiten und dem, was Assassin’s Creed traditionell ausmacht. Ein Protagonist, der kaum klettern kann und sich nicht lautlos bewegt? Was soll das? Aber je mehr Zeit ich mit Yasuke verbracht habe, desto mehr habe ich seinen Platz im Spiel verstanden. Er ist fraglos sperrig, aber seine Spielweise greift einige Schwächen der Reihe auf, die in den letzten Jahren deutlicher wurden.
Nach einem kurzen Auftritt im Prolog spielt man Yasuke erst einige Stunden später. Der Einstieg gehört ganz Naoe – einer Assassinin, wie sie im Buche steht. Schnell, wendig und leise. Der Wechsel zu Yasuke fühlt sich dann wie ein Kulturschock an.
Der große Samurai ist schlicht zu wuchtig, um sich unbemerkt durch Feindeslager zu schleichen. Er kann kaum Mauern erklimmen, auf Dächern balanciert er unbeholfen am höchsten Punkt und bewegt sich langsam, für alle sichtbar. Es fühlt sich mühsam an, mit ihm an die Orte zu gelangen, die Naoe mühelos erreicht. Klettern wird zum Hindernislauf, Leitern und Gerüste sind plötzlich unverzichtbar.
Das zwingt Yasuke zwar nicht komplett auf Bodenniveau, aber es macht ihm das Leben in der Vertikalen schwer. Hoch oben die Umgebung überblicken? Fehlanzeige. Wo Naoe auf ihr Adlerauge zurückgreifen kann, bleibt Yasuke auf seine Sinne angewiesen – und die führen meist direkt in den Nahkampf. Wer Yasuke steuert, muss akzeptieren: Hier geht es nicht um Schleichen, sondern um rohe Kraft.
Das widerspricht im Grunde allem, was Assassin’s Creed groß gemacht hat: heimliches Vorgehen, tödliche Attentate aus dem Schatten, geschmeidiges Klettern. Yasuke aber spielt sich eher wie ein Charakter aus Ghost of Tsushima. Er ist kein Assassine. Er ist ein Krieger. Ein Samurai. Und Ubisoft zwingt uns, das zu akzeptieren – oder zumindest zu verstehen.
Aber genau darin liegt eine neue Faszination. Während Assassin’s Creed früher seine Helden in Spider-Man-Manier überall hochklettern ließ, bietet Yasuke eine andere Herausforderung. Seine Wege sind vorgegeben, aber oft clever versteckt. Ein umgestürzter Baum führt zu einem Synchronisationspunkt, eine lose Mauerstruktur zu einem offenen Fenster. Wer genau hinschaut, entdeckt alternative Routen, die es so in früheren Spielen nicht gab – und genau das macht das Erkunden wieder spannend.
Gleichzeitig sorgt die klare Trennung der beiden Figuren für ein besseres Gleichgewicht. In den Vorgängern wie Origins, Odyssey oder Valhalla war offener Kampf oft die einzige Option. Hier zwingt Naoes Verletzlichkeit zur Vorsicht. Wird sie entdeckt, bleibt nur Flucht, Verstecken, Neustart. Wer dann genug von der Anspannung hat, wechselt zu Yasuke – und zerlegt seine Gegner mit roher Gewalt.
Doch so faszinierend Yasuke als Charakter auch ist, so schwer lässt er sich in das Assassin’s-Creed-Universum einordnen. Bayek oder Eivor waren zwar kampflastig, blieben aber dennoch Assassinen, mit versteckter Klinge und Kletterkünsten. Yasuke hingegen kann beides nicht wirklich bieten. Das ist authentisch – schließlich ist er ein Samurai – macht ihn aber auch zur Ausnahme innerhalb der Reihe.
Naoe hingegen ist das genaue Gegenteil: Sie verkörpert die klassischen Stärken eines Assassinen, ergänzt um das vertikale Leveldesign des feudalen Japans, das wieder an die alten Tugenden der Serie erinnert. Sie ist wendig, tödlich und klettert, als wäre sie dafür geboren. Während Yasuke die Serie bricht, lässt Naoe sie aufleben.
Yasuke bleibt damit ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bietet er eine neue Perspektive, die frischen Wind bringt. Andererseits steht seine Spielweise in direktem Widerspruch zu dem, was Assassin’s Creed ausmacht. So sehr ich seine rohe Kampfkraft genieße – das wahre Assassin’s-Creed-Gefühl habe ich, wenn ich als Naoe durch die Schatten schleiche.